Ströme und Kräfte. Zum Nietzsche-Zyklus von Jobst Günther

von Jochen Kirchhoff 

Wenige Denker nur üben eine so ungebrochene Faszination auf die sogenannte Nachwelt aus wie Friedrich Nietzsche, der „Philosoph mit dem Hammer“, der Wagner-Freund und -Gegner, der Sprachvirtuose, der „Einsiedler von Sils-Maria“, der Extremist und Experimentator des Geistes, der schließlich im Januar 1889 in Turin zusammenbricht und weinend ein Pferd umarmt. Der ein schauriges Schicksal erleidet, hineingetrieben oder -gerissen in den Wahnsinn (von wem? Wodurch?).

Nietzsche ist immer eine Herausforderung. Wer sich auf ihn einlässt, kommt nicht ungeschoren davon. Nur wer sich der Glut seines Denkens wirklich öffnet (und das geht nicht ab, ohne sich auch verwunden zu lassen), „hat etwas davon“, um es alltagssprachlich zu fassen. Das bedeutet keineswegs, dass man ihm zustimmen muss, ob nun partiell oder in Gänze. Aber Blessuren erleidet jeder bei intensiver und „mitsinniger“ Lektüre. Martin Heidegger sagt einmal, Nietzsche habe ihn ruiniert (!). Das sollte man ernstnehmen. Es muss nicht der Ruin sein. Aber es geschieht etwas, wenn man nicht gleich die jeweils eigene Ideologie dagegen in Stellung bringt, als Rüstung sozusagen, um die Pfeile Nietzsche nicht erleiden zu müssen, die es immer gibt neben den Beglückungen und Ekstasen im einsamen Schmökern…

Kann man Nietzsche malen (ich meine: als geistiges Phänomen)? Man kennt als nietzscheporträt von Edvard Munch,- seltsam starr, irritierend, „abgründig“. Man kennt die Heroenbüste von Max klinger, die auch irritiert, doch auf andere Art. Und manches mehr. Jobst Günther geht einen ganz eigenen und (ich benutze dieses klischeehafte Wort) durchaus originellen Weg, um sich als Maler dem Phänomen Nietzsche anzunähern. Vergröbert gesagt: Er übermalt alte Photographien, solche aus der Nietzschezeit im weiten Sinn, und benutzt sie als Folie -­- und Chiffre. Man hat oft Mühe, das zugrundeliegede Photo auszumachen und einzuordnen. Daneben gibt es Eingesprengtes; Texte, Bilder, Photos, inselhaft irgendwie, die Aspekte und Etappen des Weges bezeichnen sollen, den Nietzsche gegangen ist.

Ein Beispiel: Ein Photo -­- „übermalt“ -­- zeigt die Brücke der Piazza Vittorio Veneto und die Kirche Gran Madre di Dio in Turin, also an jenem Ort, wo Nietzsches Geist irreversibel zerbricht. „Abends auf der Pobrücke: herrlich! Jenseits von Gut und Böse!“ So heißt es in einem jener späten Briefe, die man nicht ohne Bewegung, ja Rührung lesen kann. -­- Hier legt Günther dunkle Linien hinein, die Unruhe signalisieren. Die Brücke ist in ein gespenstisches Gelb getaucht, wie auch ein handschriftliches Briefstück unten recht (nicht das, aus dem eben zitiert wurde). -­- Finsternis, seltsam brütend, -­- Kräfte -­- weben…

Immer wieder das Unheimliche in diesen Bilder, die Bewegung, das Heranrollen der nihilistischen Katastrophe hinter so so friedvoll wirkenden bürgerlichen Fassade. Wagner, Schopenhauer, Leonardo da Vinci (der von Nietzsche so Bewunderte) tauchen auf, melden sich, werden zu Mitspielern.

Jobst Günther versucht seelische, geistige, epochale Ströme und Stürme über Linien und Farben ins Sinnliche zu ziehen, im üppig oder auch fahl Sinnlichen das dahinter Wirkende erahnbar zu machen. Dämonie und Verhängnis, und zugleich ein sich hindurcharbeitendes Licht. Wirrnis und Klärung. Untergang und Neugestaltung. Menschen in Kraftfeldern, die sie übersteigen und durchdringen.-­- Günther vermeidet das Pathetische. Er zielt nicht auf eine klar und eindeutig abzugreifende Botschaft, obwohl das anthroposophische Element unverkennbar bleibt. Aber es dominiert nicht. Es engt nicht ein. Günther malt keine Ideologie. Er malt Impulse und Energien, von denen man nicht weiß, woher sie kommen, wohin sie gehen, worauf sie zielen. Ein großes ES wirkt durch alles hindurch, das irgendwie, so scheint es, darauf wartet, Ich zu werden.

Ob man Nietzsche über die Bilder Günthers neu begreifen kann, will ich nicht entscheiden. Ich würde es eher verneinen, aber es ist auch nicht wichtig. Wichtiger ist das Bild als Bewegung, das auch im Betrachter diese (innere) Bewegung auslöst.

Wohin sie einen dann treibt, das ist eine wieder andere Geschichte „und soll ein anderes Mal erzählt werden“…

Berlin, im Dezember 2011

 

Jochen Kirchhoff, geboren 1944, lebt als Philosoph und Schriftsteller in Berlin. Im Drachen Verlag ist sein naturphilosophisches Hauptwerk erschienen: „Was die Erde will“, „Räume, Dimensionen Weltmodelle“, „Die Anderswelt“ und „Die Erlösung der Natur“.

1990: „Nietzsche, Hitler und die Deutschen. Vom unerlösten Schatten des Dritten Reiches“.